6. Brief aus Kanada |
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von Rolf Studer
Die Elchjagd ist zuendeDer Heilige Hubertus, Schutzpatron aller Jäger, hat meinem Freund Big Al seinen Segen bis zum letzten Moment verweigert. Es war später Nachmittag des vorletzten Tages der Elchsaison, als wir uns auf der Rückfahrt aus dem Jagdrevier befanden, in dem wir seit den frühen Morgenstunden vergeblich Ausschau nach einem Elchbullen gehalten hatten. Plötzlich bemerkten wir nahe der holprigen Strasse einen grossen Elch, der regungslos im offenen Gehölz stand. Sofort erkannte ich eine helle Schaufel auf seinem Kopf und rief ganz aufgeregt: "A moose bull!" Leider hatte ich mich geirrt, denn wie mich mein Jagdkamerad sogleich belehrte, handelte es sich bei dieser ‘Schaufel’ bloss um die riesigen Ohren einer Elchkuh, die sie wie Parabolspiegel in unsere Richtung geschwenkt hatte. Enttäuscht, aber voller Hoffnung, doch noch einen echten Bullen zu entdecken, spähte ich die nähere Umgebung der Kuh ab. Immerhin hatte der frühe Wintereinbruch die Brunstzeit in diesem Jahr stark vorangetrieben, was auch bei Elchen gelegentlich zu Unvorsichtigkeit und blindem Eifer führen kann. Und tatsächlich ! Unweit hinter der attraktiven Dame erhob sich eine mächtige, schwarze Silhoütte, bei der es sich zweifelsohne um einen Freier handeln musste. Was für ein Elchbulle! Im fahlen Gegenlicht des düsteren Novemberhimmels zeichnete sich die charakteristische Schaufel breit und gestochen scharf ab. Wie eine Statue stand er da und hatte den Kopf in unsere Richtung gewandt. Seltsamerweise bewirkt nämlich der laufende Motor eines Autos, dass Wildtiere aus Neugierde verharren, wohingegen sie bei allen anderen unbekannten Geräuschen augenblicklich die Flucht ergreifen. "There’s the bull" flüsterte ich Big Al zu, der aber bis heute behauptet, ich hätte diese Worte geschrien. Schon war er draussen, und Sekunden später peitschte ein Schuss in die Stille. Der Elch zuckte leicht zusammen, bevor er in wildem Galopp in den nahegelegenen Wald preschte. Die Elchkuh war in die entgegengesetzte Richtung geflohen. Kurz danach waren beide verschwunden. Nur noch tiefschwarze Spuren, von schweren Hufen in die schneebedeckte Erde gewühlt, bewiesen, dass es sich hier nicht um einen Spuk gehandelt hatte. Dort, wo der männliche Elch gestanden war, entdeckten wir im Schnee zarte, hellrote Sternchen, die man aber im Zwielicht der Abenddämmerung kaum mehr erkennen konnte. "Der Schuss hat getroffen!" Vom Jagdfieber gepackt machten wir uns sofort auf die Nachpirsch, die wir aber wegen der einfallenden Dunkelheit bereits nach einer Viertelstunde abbrechen mussten. Eine Stunde später hatten wir die dringend erforderlichen Taschenlampen und einen anderen, befreundeten Jäger organisiert und nahmen die Suche zu dritt wieder auf. Die Vorstellung, dass ein angeschossenes Tier tagelang zu leiden hat, bis es schliesslich von Wölfen gerissen wird, ist jedem verantwortungsvollen Jäger ein wahrer Greuel. Im Zickzack führten die Hufabdrücke des Bullen in den stillen, weissen Wald hinein. Obschon auf der Flucht, war er äusserst schlau geblieben und hatte mit sämtlichen Tricks versucht, seine Verfolger in die Irre zu lenken. So hatte er wiederholt kleine Tannen umkreist, um dann wieder in die ursprüngliche Richtung zurückzulaufen. Im Scheine der Taschenlampen bemerkten wir aber immer wieder jene feinen Bluttupfer, die wie purpurne Kristalle verräterisch am gefrorenen Schnee klebten. Jetzt wurden die Elchschritte kleiner, was auf eine zunehmende Schwächung hinwies. Dann verlor sich die Spur endgültig in einem kleinen Tannenhain. Nach bangen Minuten fanden wir den toten Elch schliesslich nur wenige Meter entfernt in einer Bodensenke. Wie ein schlafender Riese lag er da, sein majestätisches Haupt friedlich ausgestreckt. Uns allen wurde leichter ums Herz, weil wir nun wussten, dass er nicht lange zu leiden hatte. Die Flucht hatte höchstens zweihunder Meter gedauert, bevor ihn der saubere Lungendurchschuss in die ewigen Weidgründe führte. In den folgenden Stunden wurde der Koloss an Ort und Stelle ausgenommen, danach mit einem vierrädrigen Motorrad zwischen den dichten Tannen hindurch und aus dem Wald geschleppt und schliesslich über eine steile Böschung hinab auf den Ford Pickup verladen. Diese anstrengende Arbeit brachte uns alle ins Schwitzen und dauerte bis um Mitternacht. Mit seinem Gewicht von mindestens sechshundert Kilo war dies der grösste Elchbulle, den Big Al jemals erlegt hat, und in dieser Saison der Kapitalste in unserer Gegend. Im kommenden Jahr wird er die vierköpfige Familie von Al Reid mit dem dringend benötigten Fleisch versorgen, das übrigens ausgezeichnet und ähnlich wie Rindfleisch schmeckt. Für mich hat sich dieses Jagdabenteuer als das bislang eindrücklichste von zahlreichen schönen Erlebnissen eingeprägt, die ich in den ersten Monaten in Kanada erfahren habe. Die Anspannung von zwei Wochen erfolgloser Jagd hatte sich im letzten Moment glücklich gelöst. Und obschon ich ein gewisses Bedauern beim Anblick des toten Wildes empfand, werde ich die tiefe Befriedigung nie vergessen, die in diesen Minuten nicht nur aus den Augen von Big Al leuchtete, sondern jeden von uns erfüllte. |
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