Aus dem Ruf, "Wir sind das Volk", wurde "Wir sind ein Volk".
Die friedliche Revolution, der Aufbruch der Menschen in der DDR.
Millionen Menschen haben ihre ganz persönliche Erinnerung an
den 9. November 1989. Ich spüre noch heute den Freudentaumel. Er
ist nicht gewichen. Warum?
Oft erwache ich und denke, es war ja
nur ein Traum. Aber dann fallen mir meine Freunde ein, die ich
seit dem Fall der Mauer kennengelernt habe, und ich weiß, aus
dem Traum der Hoffnung ist Realität geworden.
Meine Erinnerungen wandern zurück in das Jahr 1989:
Seit Anfang Oktober erfuhren wir durch die Medien über den
Aufbruch des Volkes der DDR. Züge der Deutschen Reichsbahn
bringen ausreisewillige DDR-Bürger über Prag nach Ungarn. Immer
wieder versuchten die Flüchtlinge in die überfüllte
Bundesdeutsche Botschaft in Ungarn zu gelangen. Inzwischen
werden die visafreien Einreisen in die CSSR unmöglich gemacht.
Die Bürger der DDR finden sich jeden Montag zu friedlichen
Demonstrationen in Dresden, Leipzig, Berlin und anderswo
zusammen.
Einen Monat später, der Novembernebel bedeckt das Laub, die
politischen Unruhen im anderen Teil Deutschlands lassen mich
frieren. Meine Gedanken wandern schon ein wenig zum
bevorstehenden Weihnachtsfest. Sollte ich mit dem
Lebkuchenbacken schon beginnen? Es ist ja erst der 9. November.
Merkwürdige, unverständliche Nachrichten lassen mich aufhorchen,
unruhig werden. Ach was, gute Lebkuchen müssen zeitig gebacken
werden. Ich stelle das Backzeug bereit, tue etwas
Ungewöhnliches. Ich hole mir den Fernseher in die Küche, um beim
Backen den Apparat in Hörweite zu haben.
Die Nachrichten sind fast schon vorbei, als ich das Gerät
einschalte, und höre nur noch den Satz des Nachrichtensprechers:
"Wir halten sie bei Neuigkeiten auf dem Laufenden."
Was hatte das zu bedeuten? Erst drei Stunden später erfuhr ich,
dass ganz Deutschland auf den Beinen ist. Ich hatte beim Backen
übersehen, dass das Fernsehen in Schrifttiteln mitgeteilt hat,
dass sich die Grenzen geöffnet haben.
Ich setzte mich ins Auto und fuhr zur Bornholmer Brücke. Ich
musste wissen, ob die Fernseh-Sonderberichte stimmten. Schon
bald strömten mir Menschenmengen entgegen und alles rief immer
wieder: "Das ist der helle Wahnsinn." Die Autos hupten, die
Menschen winkten einander zu. Ich traf viele Freunde und
Bekannte. Sie erzählten mir, was geschehen war.
Die Grenzen offen.
Ich konnte es nicht fassen. Irgendjemand nahm mich an die Hand
und sagte: "Komm lass uns rüber gehen." Jeder jubelte jedem zu,
und plötzlich stand ich wirklich im Ostteil unserer Stadt.
Mein Gott, wie viele Jahrzehnte war es her, als ich das letzte
Mal dort war? Das kann doch alles nicht wahr sein! Aber ein
Blick in einen "Obstladen" sagte mir, ja, du bist in Ostberlin.
Da waren nur Äpfel in den Obstkisten. Keine Orangen, keine
Bananen, keine Zitronen. Die Häuser, die ich sah, waren
zerfallen, die Straßen leer. Die Menschen waren im Westteil
unserer Stadt.
Es war schon mitten in der Nacht, als wir zurückgingen. Auf der
Bornholmer Brücke waren noch immer Menschenströme im
Freudentaumel. Tränen der Freude auf fast jedem Gesicht. Neben
mir ging ein junger Mann, fast ein Kind noch, der immer wieder
weinte und schrie: "Mein Gott, ich bin im Westen, ohne verfolgt
zu werden, ohne Gefängnis, ohne erschossen zu werden." Ich
versuchte, ihn zu trösten, nahm ihn mit zu meinen Freunden am
Ende der Brücke.
Jubel über Jubel. Die Stunden vergingen, mir wurde kalt. Völlig
durchgefroren fuhr ich nach Hause, ins Bett, um mich
aufzuwärmen. Zehn Minuten später war ich wieder auf den Beinen,
diesmal wärmer angezogen, zog von neuem los. Nichts hielt mich
zu Hause. Ich hatte Angst, es könnte gleich wieder vorbei sein.
Die Mauer blieb für immer geöffnet. Und ich genieße es, auch
wenn ich jetzt vierhundertfünfzig Mark weniger in der Lohntüte
habe, auch wenn vieles schlechter geworden ist. Ich habe viele
Freunde gefunden, in ganz Deutschland.
Schade, dass es noch Menschen gibt, die eine Mauer im Kopf
haben. Aber die kann und muss jeder selbst abbauen.
Marianne Schmidt
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