Es wird geheimnisvoll in den Wochen vor Weihnachten,
besonders nachdem der Adventskranz das erste Mal auf dem Tisch
stand und die erste Kerze ihren Schein zaghaft über den
gedeckten Kaffeetisch verstreute. Die Zeit der Erwartung hat
angefangen, und wir hängen Kindheitserinnerungen nach.
Wie anders unser Leben war! Damals saß die Familie regelmäßig
zusammen und erzählte Geschichten, während emsig gebastelt,
gebacken, genäht, gestrickt, gestickt und gehäkelt wurde. Die
Großen tranken Glühwein oder Grog, die Kinder hatten ihren
heißen Kakao. Die Topflappen für Oma wollten einfach nicht
gelingen. Die bemalte Spanschachtel für die beste Freundin
wollte nicht trocken; dabei musste sie doch noch lackiert
werden!
Mutti hörte das Weihnachtsgedicht ab, das auswendig gelernt
werden musste, und dabei verbrannten dann die ersten Plätzchen
im Ofen ein wenig. Das war gut, denn sie durften gleich gegessen
werden. Die anderen kamen in Blechbüchsen für den nächsten
Sonntag und Weihnachten. Vati schrie nebenan, weil er sich beim
Basteln (war es die Puppenstube?) mit dem Hammer auf den Finger
gehauen hatte.
Am schönsten aber waren die Geheimnisse, die man hatte. Mit
Mutti wurde besprochen, was man von dem sauer ersparten kleinen
Taschengeld dem Vati schenken konnte. Es reichte hinten und
vorne nicht. Es sollte doch nicht schon wieder ein Schlips sein.
„Schenke ihm doch die schönen warmen Hausschuhe, die er neulich
beim Spazierengehen so bewundert hat. Ich gebe dir was dazu."
Das war eine gute Lösung. Da konnte ich noch zwei kleine
Marzipan-Brote reinstecken. Die aß er doch so gerne!
Mit Vati wurde natürlich besprochen, was Mutti bekommen sollte.
Eine in der Schule gestickte Decke musste noch hinten versäubert
werden; aber sie sollte doch noch was Besonderes haben.
„Wie wäre es mit ihrem Lieblingsparfum? Ich gebe dir was dazu,"
sagte Vati. Prima! Das Problem war auch gelöst. „Aber du musst
mir noch ein paar Tannenzapfen sammeln. Die vergolden wir dann
nächstes Wochenende zusammen..." Wenn das alles war...„und mein
Geschenk für Mutti musst du auch einpacken, das kannst du
besser", sagte Vati. Klar doch, wird gemacht.
Mutti wurde bedrängt: „Kriege ich den schönen Nähkorb, den mit
dem rosa Satin innen drin?"
„Vielleicht, wenn du schön lieb bleibst, wenn nicht, dann eben
nicht." Als ob ich vorhatte, frech zu sein! So was passierte
doch nur so, einfach ohne Vorwarnung, ich weiß auch nicht wie,
und immer nur, wenn ich von der Schule zu spät nach Hause kam.
Da gab ich manchmal Widerworte. Die anderen Kinder durften ja
auch hinterher noch Eis essen gehen, nur ich nicht. Außerdem
hatte ich ja noch keine Uhr. Wie sollte ich denn wissen, wie
spät es war. Ich wusste ja, dass Mutti den Korb schon gekauft
hatte, denn er stand nicht mehr im Fenster, wo wir ihn gesehen
hatten. Die anderen Mädchen in meiner Klasse hatten schon längst
so einen Korb, nur ich lief immer noch mit diesem dämlichen
Stoffbeutel rum. „Du musst nicht etwas haben, bloß weil jemand
anderes es hat", hatte Mutti auf meine Argumente geantwortet.
„Der Beutel erfüllt seinen Zweck genauso gut."
Ich weiß noch, wie ich innerlich gegrollt habe. Und dann
passierte es, das ich mal wieder viel zu spät zum Mittagessen
ankam und versuchte mich mit dummen Ausreden zu retten. Ich
musste meinen Eintopf so lauwarm essen, wie er war, und Mutti
schaute mich ganz traurig an. „Das du nicht lernen kannst
pünktlich zu sein, auch ohne Uhr. Du bist alt genug nach der
Zeit zu fragen, und es gibt auch etliche öffentliche Uhren, wo
du die Zeit ablesen kannst." Sie hatte ja recht, aber ich wollte
es nicht zugeben.
„Ich glaube, der Nähkorb wird bis zu Deinem Geburtstag warten",
sagte Mutti dann noch. Es verschlug mir fast die Sprache, aber
ich murmelte vor mich hin: „Ich kriege ihn ja doch!"
Mutti hat es wohl gehört und war gar nicht mehr traurig, sondern
ordentlich verärgert. „Wir werden sehen" war ihre kurze Antwort.
Von da an versuchte ich immer pünktlich zu sein, aber es gelang
mir einfach nicht.
Am Heiligen Abend ging alles wie geplant. Nachdem wir gegessen
hatten, verschwand erst Vati im Wohnzimmer, dann Mutti. Als ich
eine kleine Glocke silberhell klingeln hörte, durfte ich auch
kommen. Der Tannenbaum, den Vati am Nachmittag geschmückt hatte,
stand auf einem Tisch und erstrahlte das Zimmer taghell.
Darunter stand die Krippe und um sie herum lagen kleine hübsche
Päckchen. Auf dem Boden war ein riesiges Paket, das sehr
unregelmäßig aussah. Vati stimmte das erste Weihnachtslied an.
Dreistimmig sangen wir „O Tannenbaum". Das sangen wir immer
zuerst. Vati und Mutti sangen auch einige Lieder alleine, und
ich hörte nur zu. Es waren Lieder aus ihrer Heimat Pommern und
Ostpreußen, die man am Niederrhein nicht kannte. Ich hatte sie
noch nicht alle gelernt. Da war auch ein Lied, was wir in
verteilten Rollen sangen. Vati sang die Rolle des Josef, Mutti
sang Maria, und ich alles zwischendrin.
Das letzte Lied war immer „Stille Nacht, heilige Nacht". Dann
las Vati die Weihnachtsgeschichte vor und ich musste noch ein
Gedicht aufsagen. Erst dann durften die Geschenke ausgepackt
werden.
Ich suchte nach meinem Nähkorb, aber jedes Päckchen, das ich
auspackte, hatte etwas anderes als das Erwünschte drin. Das von
Vati gebaute Puppenhaus war wirklich sehr schön. Und die
Rollschuhe, die ich so dringend haben wollte, waren auch
herrlich. Der neue Schulatlas begeisterte mich; aber mein
Nähkorb fehlte. Mutti sah wie ich danach suchte, aber nichts
sagte. Sie nahm mich in den Arm und sagte: „Du weißt, dass ich
meine Versprechungen immer halte. Ich erwarte das gleiche von
dir. Der Nähkorb muss bis zu deinem Geburtstag warten. Verstehst
du das?"
Ja, ich verstand es, war aber trotzdem enttäuscht. Mutti schob
mir den bunten Teller zu: „ Sieh mal, da ist dein
Lieblingsgebäck drauf und eine ganz tolle Schokolade mit viel
Nüssen; die magst du doch so gerne." Getröstet schob ich mir ein
Plätzchen in den Mund und setzte mich zu Vati auf den Schoß, der
seine neuen Puschen bewunderte. Mutti probierte ihr Parfum und
legte sich die Ohrringe mit der Kette an, die Vati ihr geschenkt
hatte. Wir machten das Radio an und hörten der Weihnachtsmusik
zu, während wir zusahen, wie die Kerzen am Baum langsam
abbrannten.
„Hast du dir schon eine ausgesucht?" fragte Vati mich. Schnell
sagte ich, welches meine sein sollte. Dann entschieden sich Vati
und Mutti. „Mal sehen wessen Kerze am längsten brennt. Mach
einen Wunsch. Wenn es deine Kerze ist, dann geht er gewiss in
Erfüllung."
Ich wünschte mir, dass ich von nun an pünktlich sein könnte,
damit ich zu meinem Geburtstag den schönen Nähkorb bekommen
würde.
Meine Kerze brannte am längsten! Und ich bekam den Nähkorb zu
meinem Geburtstag im April!
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