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Leitartikel Auswahl

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Erschienen: September 1990
Neu veröffentlicht: 1991

In diesem Sommer wurde die Frage: "Ist das deutsch oder nicht?" mehrmals in der hiesigen deutschsprachigen Gemeinde aufgeworfen.

ECHO GERMANICA machte sich die Mühe, es herauszufinden.

Fragen wie "Was fällt Ihnen ein, wenn ich frage ‚Was ist deutsch?’ oder ‚Was ist typisch deutsch?’" wurden hier in Kanada und in Deutschland gestellt. Wir befragten nicht nur Deutsche, sondern auch einen Querschnitt von Kanadiern verschiedener Abstammung, ebenso auch Fremde in Deutschland, die dort leben und arbeiten.

Eine der ersten Antworten wurde uns als ethnischer Witz gegeben:

„Ein Deutscher ist ein Gelehrter, über alles.
Zwei Deutsche sind ein Gezankverein.
Drei Deutsche sind eine Armee, sie marschieren immer."

Um die anderen deutschen Sprachgruppen nicht auszulassen, wurden wir weiter informiert:

„Ein Österreicher ist ein Feinschmecker.
Zwei Österreicher sind eine Heurigenpartie.
Drei Österreicher gibt es nicht, da ist immer ein Fremder dabei."

Die Schweizer wurden folgendermaßen beschrieben:

„Ein Schweizer ist ein Eidgenosse.
Zwei Schweizer sind ein Bankgeheimnis.
Drei Schweizer sind Uhrenschmuggler."

Weiterhin wurde uns gesagt, daß es diese freche Art von Sprüchen über jedes Land gibt. Die erste Bemerkung über einen Deutschen könnte genau wie die über einen Österreicher oder einen Schweizer fast eine Wahrheit sein, da Deutschland hohe Ansprüche ans Schulsystem stellt. Aber die Worte "über alles" sind garantiert eine Anspielung auf die deutsche Nationalhymne und deshalb wesentlich bissiger als die Bemerkungen über die beiden anderen. Die Zeilen über "zwei" oder "drei" beinhalten eine Form von Kritik, die nur bei den Österreichern abwesend ist.

Das könnte unter Umständen heißen, daß diese Serie über ‘wer ist wie’ aus Österreich stammt. Die anderen beschriebenen Länder sind nämlich auch nicht so gut wie die Österreicher dabei weggekommen. Die Äußerungen waren besonders scharf und kritisch. Vielleicht war der Verfasser ein auf Puderzucker scharfer Feinschmecker, der ihn regelmäßig auf all das stäubt, was ihm in seiner eigenen Umgebung nicht angenehm ist, um von möglichen negativen Punkten abzulenken und die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken. Das kann natürlich nicht bewiesen werden und wird auch nur als spekulativer Gedanke offeriert.

Es ist interessant, daß die meisten der befragten Kanadier in unserer Umfrage an Essen und Getränke dachten. Deutsches Essen ist Kaltwetteressen, wie z. B. Sauerkraut, Würstchen und Schweinebraten, hat einen kräftigen Geschmack und ist ideal für den kanadischen Winter. Deutsche Biere und Weine waren auch schnelle Antworten, wobei sie meistens besser als die nordamerikanischen Produkte bewertet wurden.

Unter belesenen, gut ausgebildeten Kanadiern waren die Beiträge deutscher Kunst erste Antworten. Dabei konnte man ihren Gesichtern ansehen, wie viel Bewunderung sie dafür hatten. Deutsche und österreichische Komponisten standen ganz oben auf ihrer Lieblingsliste. Malerei, Architektur und Industriedesign wurden neben deutschen Philosophen als eine große Stärke angegeben. Wenn wir nach persönlichen Merkmalen fragten, wurde uns meistens gesagt, daß es ja die durch verschiedenen Medien verbreitete Klischees gäbe, die aber in ihren persönlichen Erfahrungen mit den jeweils eigenen Erfahrungen nichts gemeinsam haben. Interessanterweise haben sie einige eigene Klischees in Bezug auf Österreicher und Schweizer, da sie sich nicht bewußt sind, viele Freunde und Bekannte aus diesem Bereich zu haben.

Deutsche werden als freundlich und höflich beschrieben, aber nie übermäßig, deshalb glaubt man ihren Gefühlen. Qualitäten wie Verläßlichkeit (Das Einhalten eines Versprechens selbst unter schwierigen Umständen), große Gastfreundschaft (im eigenen Haus und auch bei größeren Veranstaltungen) als auch eine große Freude daran, mit anderen zu feiern, wurden meistens erwähnt.

Verschiedene Leute bemerkten, daß Deutsche, Österreicher und Schweizer das System nicht so ausnutzen wie andere Gruppen.

Österreicher wurden als Menschen beschrieben, die auf gepflegte Manieren und Vornehmheit Wert legen. Österreichisches Essen war sehr beliebt, insbesondere die süßen Variationen. Musik und Trachten wurden auch oft erwähnt. Die Schweizer wurden für ihren Geschäftsverstand ohne Sentimentalitäten gelobt, wegen ihrer starken Dienstleistungsorientierung, und zwar immer mit einem Lächeln.

Die meistgeäußerten Bemerkungen im Bezug auf alle drei deutschsprachigen Gruppen waren : großzügig und fair.

Die Meinung der Kanadier im Bezug auf alles Deutsche ist positiv. Die Meinungen der Leute aus unserem eigenen Sprachraum weist eine Veränderung der Beobachtungen auf. Diese Meinungen über die eigenen Leute, weil sie von innen kommen, sind viel kritischer, und zwar den eigenen Gruppen gegenüber als auch wie man außerhalb derselben wahrgenommen werden will.

Dazu wären die Feierlichkeiten im Zusammenhang mit der Verbindung Frankfurt am Main und Toronto ein gutes Beispiel. Zu dem Anlaß fand auf dem Nathan Phillips Square eine öffentliche Veranstaltung statt. Das "Deutsche Nationale Tourist Büro", Privat- und Geschäftsleute organisierten zusammen ein tolles Fest. Eingeladen war die berühmte Frankfurter Barrelhouse Jazzband. Sie repräsentierte die Bundesrepublik Deutschland schon 49 mal bei ähnlichen Anlässen, Kanada war Nummer fünfzig. Der freundliche und konsolidierende Zeitgeist der Dixieland Musik, gespielt von einer erstklassigen deutschen Band, war aus der Sicht vieler anwesender Deutscher nicht deutsch. Man war hingegen der Meinung, daß Volksmusik angebrachter gewesen wäre. Dem allgemeinen Publikum gefiel die Musik außerordentlich. Wahrscheinlich verschwendete nicht ein Einziger auch nur einen Gedanken daran, daß dies nicht deutsch war. Andere Journalisten waren von der Qualität der Band beeindruckt. Die Volksmusik wurde während der Konzertpausen vom Band gespielt. Ansonsten waren viele deutsche Elemente vorhanden, z. B. Bier, Lebkuchenherzen und Struwwelpeter, eine Märchenbuchfigur aus Frankfurt. Für deutsche Nachkriegsgenerationen ist Dixieland Jazz genauso vertraut wie ein deutsches Volkslied, genau wie viele andere fremde Dinge. Ein Trip nach Deutschland und weitere Umfragen bestätigten das. Wenn man durch das Zentrum einer großen Stadt in Deutschland geht, ist es schwer festzustellen was deutsch ist. Das Bild ist bunt gemischt. Man sieht viele Menschen auf den Straßen, die zwar kaukasisch aussehen, aber offensichtlich nicht alle deutsch sind. Ihre Kleidung weist sie als eine internationale Schar aus. Junge Leute tragen meisten Jeans mit irgendetwas, sehr leger. Oft erzählt nur das Kopfsteinpflaster, daß sich diese Jugendlichen nicht in Nordamerika befinden, denn sie demonstrieren ihre Liebe in Sachen Amerika recht auffällig. Das liegt wahrscheinlich an der Art und Weise, wie Produkte vermarktet werden. Plakate auf Englisch, Produkte aus den USA sind stark gefragt. Im Fernsehen hat fast alle Werbung einen englischen Soundtrack, wenn das Gesprochene darin auch auf deutsch ist, und es sich nur um ein Waschmittel oder Deodorant handelt. Das nordamerikanische Marktsystem ist fest etabliert und hat seine Spuren in der Kultur hinterlassen. Die neueren Generationen taten sich schwer, etwas typisch deutsches zu finden. Nur Bier- und Kaffeetrinken, eine Vorliebe fürs Tanzen und Feiern und Ferienmachen außerhalb von Deutschland fiel ihnen ein. Ältere Generationen sagten spontan: Volksmusik, regionale Kostüme (Trachten), Dialekte! Die Antworten ähneln sich bei den älteren Generationen hüben und drüben!

Das ergibt natürlich nicht das ganze Bild, sondern nur eine Indikation. Fremde, die in Deutschland leben und arbeiten beschreiben ihre Gastgeber als fleißige, saubere Menschen, die sich gerne Vereinen und Gesellschaften für Gemeinschaftsaktivitäten anschließen. Es ist wahr, daß man in Deutschland per Kapita die größte Anzahl eingetragener Vereine in der Welt feststellen kann. Die bewegen sich zwischen Karneval und Sport und allem anderen was man als Gruppe gemeinsam gestalten oder unterstützen kann. Wenn das Massenmedium Fernsehen eine Reflexion für typisch Deutsches ist, dann muß ein neutraler Beobachter feststellen, daß die Deutschen ihre Unterhaltung importiert vorziehen. Das Gleiche wird man hier allgemein bei Deutschkanadiern feststellen können. Entrepreneure, die deutsche Künstler für ein deutschsprachiges Publikum nach Kanada bringen, sind sehr erfolgreich, besonders wenn der Sänger sein Repertoire auf Deutsch vorträgt. Ansonsten kann, wie schon passiert, eine Kontroverse auftreten. Hier ansässige Talente aus den eigenen Reihen müssen sich alleine in der kanadischen Kulturlandschaft zurechtfinden und haben es oft nicht leicht. Aber auch hier gibt es Veränderungen. In Toronto haben sich Künstler und deren Freunde zu einer lockeren Gruppe formiert, um ihre Bemühungen zu unterstützen. Deutschsprachige Menschen sind natürlich vielen anderen Kunstformen zugetan, wie Oper, Konzerten, Theater usw.! Ein Vorzug der Zweisprachigkeit.

In Deutschland ist es ähnlich. Während die ältere Generation es vorzieht, hauseigene "Soaps" (Seifenopern) wie "Die Schwarzwald Klinik", "Ein Herz für Tiere" oder "Der Landarzt" anzusehen, zieht der Rest es vor, die guten alten nordamerikanischen Serien, die in großer Anzahl angeboten werden, anzusehen. Da gibt es: "Dennis the Menace", "Jake and the fatman", "Dallas", "Miami Vice", "Die Cosby Show", "Star Trek", "Magnum P.I." und viele andere. Sie marschieren wöchentlich, manchmal täglich über den Bildschirm.

Bei bunten Programmen gibt es immer viel Ausländisches, hauptsächlich auf Englisch.

Außer den kontinuierlich stattfindenden politischen Debatten - momentan gibt es mehr zu debattieren als je zuvor - werden viele Filme angeboten: amerikanische, kanadische, französische, englische - alles mögliche - und einige deutsche Filme. Natürlich hat Deutschland auch eine eigene "Miami Vice" Fernsehversion: "Schimansky", eine im Ruhrgebiet spielende Kriminalserie.

Country und Western Lieder sind sehr beliebt und sind selbst in deutscher Sprache eine genaue Kopie der nordamerikanischen Versionen. Die deutschen Sänger verenglischten sogar ihre Namen, z.B. Jonny Hill. Jetzt wird es noch schwieriger festzustellen, was wirklich deutsch ist.

Bei allen unseren Umfragen war nur ein kleiner Anteil, der etwas Negatives über die eigenen Landsleute zu sagen hatte, wie z.B.:

Ein Gartenzwerg in jedem peinlich genau zurechtgestutzten Garten,

ein kleinkarierter, enger und sturer Gesichtskreis,

angeben oder protzen.

Aber diese Kommentare kamen von sehr jungen Leuten, die noch mit ihren Eltern und höchst komfortabel von deren Geld leben, das ihnen stinkt. Sie brauchen natürlich nicht zu arbeiten, um auszuhelfen.

Wahrscheinlich hörten sie sich die in der letzten Zeit sehr häufig vorgekommenen Kommentare aus den britischen Medien an, in denen ein nun verabschiedeter englischer Minister die Deutschen arrogant und aggressiv nannte.

Es ist klar, daß die Meinungen darüber was deutsch ist, zwischen Politikern und der Öffentlichkeit bzw. Menschen verschiedener Herkunft auseinandergehen, sowohl hier als auch drüben. Auffällig war, daß die meisten Befragten sich die Mühe machten, ernsthaft und nachdenklich zu antworten, anstatt gedankenlos irgend etwas Vorfabriziertes vom Massenmarkt der Medien auszuspucken.

Vielleicht kann dieser Bericht dazu beitragen, unsere Leser zu bewegen, ihre Mitmenschen - egal wo sie herkommen - mit anderen Augen anzusehen. Es gibt keine geeignetere Zeit als die Gegenwart, um eine bessere Zukunft zu schmieden. Und auch das war ein gefundener Gesichtspunkt: Laßt uns die Gelegenheit wahrnehmen, alles zu verbessern!

Es wird immer Elemente geben, die durch Andersdenken auffallen, das trifft nicht nur für Deutschland und Deutsche zu. Man kann einen verfaulten Apfel in jedem Korb finden. Das Geheimnis liegt wohl darin, ihn so schnell wie möglich von den andern zu trennen, bevor er sie anstecken kann. Und das sollte wohl Zuhause anfangen, bei jedermann, sonst könnte es so kommen, daß wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen werden.


Was also ist deutsch?

Es kommt scheinbar ganz darauf an, was man sieht. Diese Übung der Umfrage zeigte mir, daß die Deutschen sehr verschiedenartig und meist gewillt sind, herauszufinden, was in ihrer Umgebung gewünscht und gebraucht wird.

Lederhosen, Dirndlkleider Würstchen und Sauerkraut sind zwar ein bekannter Bestandteil dabei, aber weit von der Wahrheit entfernt. Deutsche werden nicht mehr durch Klischees angesehen und brauchen sich deshalb auch nicht hinter ihnen zu verstecken. Die Menschen in Deutschland haben sich gut in die Idee des globalen Dorfes hineingefunden, ohne dabei die Elemente zu verlieren, die sie kulturell von anderen unterscheiden.

Über Deutsche in Kanada ist gesagt worden, daß sie deutscher als die Deutschen seien, ein als Kompliment gedachter Kommentar besuchender Gruppen in diesem Land.

Auf der anderen Seite bin ich in Deutschland ‘kanadisch’ genannt worden. Die Kluft scheint schmäler zu werden. Und warum auch nicht? Ich nehme gerne das Beste von jedem.

Sybille Forster-Rentmeister