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August 2000 - Nr. 8

 

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von Vasile Poenaru

Vasile Poenaru

Wenn Sprachen ineinander klingen:

Dichter Polyphonie in Hannover

Am 1. Juni hat in Hannover die EXPO 2000 begonnen: Natur. Mensch. Technik. Drei anspruchsvolle Begriffe sollen bis Ende Oktober rund um den Erdball sinnstiftend erbaulich disseminiert und multimedial reflektiert werden.

Aus dem Turm der Post geht der Blick nach Europa (Expo 2000)Beinahe hätte die diesjährige Weltausstellung in Toronto stattgefunden, nur eine einzige Stimme fehlte, als die Entscheidung zugunsten der deutschen Nordstadt fiel. Dafür haben sich die Hannoveraner aber ein überaus eindrucksvolles literarisches Projekt ausgedacht, das dem neuen Babylon am Ontariosee durchaus würdig gewesen wäre: Sie brachten Dichter aus aller Herren Länder nach Hannover, um sie ein offenes Stimmengerüst unserer Zeit errichten zu lassen.

Das arabische Herz der EXPO (Expo 2000)Die Regierung des Bundeslandes Niedersachsen hatte beschlossen, ihren offiziellen ausländischen Gästen zur Ausstellung ein Buch mit eingelegter CD als Geschenk zu überreichen. Darin sind Nachdichtungen des skurrilen Gedichts An Anna Blume aus fast allen ca. 180 Teilnehmer-Ländern der EXPO in den dort verwendeten Amtssprachen und Schriften enthalten.Das Gedicht mit der bewußt falschen Grammatik stammt von dem bildenden Künstler, Autor und Typographen Kurt Schwitters, der 1887 in Hannover geboren und 1948 im englischen Exil gestorben ist. Seine Werke sind heute in vielen Museen der Welt vertreten. Die literarischen Arbeiten - Gedichte, vor allem Lautpoesie, Grotesken, Prosa und Programmschriften - sind inzwischen in viele Sprachen übersetzt, seine Komposition der Ursonate gilt als bedeutendes Werk der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. Das Anna Blume-Gedicht ist etwa 1919 entstanden und noch von Schwitters selbst ins Englische, bald darauf von anderen auch in weitere Sprachen übertragen worden.

Da Anna Blume als Botschafterin der Stadt Hannover in die Welt reiste und von überall her in sprachlich neuem Gewand zurückkehrte, sollte sie zugleich aus der Fremde nach Möglichkeit auch einige der dortigen Erfahrungen mit nach Deutschland zurückbringen. Darum wurden dieTeilnehmer des Nachdichtungsprojektes auch eingeladen, ein eigenes Korrespondenzgedicht beizutragen, das auf das Anna Blume-Gedicht Bezug nimmt, darauf reagiert, mit dem Material spielt, frei assoziiert etc. Von den Autoren der Korrespondensgedichte wurden 15 nach Hannover eingeladen, um an öffentlichen Lesungen in der Stadt und auf dem EXPO-Gelände teilzunehmen. Ich war einer von ihnen.

Am Abend des 7. Juni 2000 wurde auf dem Gelände der Weltausstellung, im Deutschen Pavillon, eine dramatische Inszenierung des Nachdichtungsprojekts veranstaltet. Aus der Tiefe kam die Bühne mit den Poeten langsam empor, während die Anna-Blume-Nachdichtungen zugleich in allen Sprachen vorgetragen wurden. Als die Bühne hielt, waren die einzelnen Fassungen als eigenständige Sprachbrocken an der Reihe, und dann verschwand das bunte Dichtervolk wieder im babylonianischen Gemurmel. Für eine kleine Weile konnten die Zuschauer den Turm wirklich sehen, an dem ein ewiges Sinnbild der Menschheit und vielsprachig entstehungslüsterne Redetexte klebten. Weil das Publikum es so wollte, kam bald ein neuer Auftritt zustande: Die iterativ generierende Veranlagung der Anna Blume schimmerte durch.

Zwei Bücher wurden herausgegeben. A-N-N-A und Anna Blume und zurück. Die Herausgeber Gerd Weiberg, Klaus Stadtmüller und Dietrich zur Nedden sind die Spitze des Eisbergs gewesen, der auf produktionswütig verklärtes Hochwasser der Poesie zusteuerte, in dem die Niedersächsische Staatskanzlei die offiziellen EXPO Gäste baden wollte. Die deutschen Medien haben die Auftritte im Leibnizhaus und im Deutschen Pavillon auf der EXPO sowie die beiden Bücher mit Aufmerksamkeit und positiven Reaktionen registriert. Darüber hinaus sind Hörbeiträge zu der Lesung am Montag, den 5. Juni, von einer lokalen und einer überregionalen Rundfunkanstalt gesendet worden.

Ein Künstler aus Hannover schuf am Anfang des Jahrhunderts sein umstrittenes Gedicht. Poeten aus aller Welt flogen Anfang Juni des Jahres 2000 nach Hannover, um im zeitweiligen Zentrum der Welt ein klangvolles Wahrzeichen des sinnvoll integrierenden Multikulturalismus zu setzen, der heutzutage zum guten Ton gehört.

Dichter Polyphonie hieß der Abend des 7. Juli im Deutschen Pavillon. Aus fünf Kontinenten kamen nicht weniger als 15 Stimmen mitsamt deren leibhaften Trägern nach Deutschland, um den Babel Turm in Hannover gleichsam noch einmal und nun bezeichnenderweise rückwärts zu errichten.

Wie weit ist das Echo der Anna Blume gedrungen? Wie stark war der Widerhall ungestümer Nachdichtungen? Ein anhaltendes Nachempfinden ergiebigen Deutschtums auf internationaler Ebene in Wege zu leiten, eine spontane Brücke zur unmittelbaren Verständigung zwischen Kulturen und zur innigen Liebe zwischen Menschen, die einander nicht immer so fern sind, wie es den Anschein hat. Dies hatten die Veranstalter, dies hatten die Teilnehmer eines nahezu wahnsinngen Unterfangen im Sinn.

Anna Blume und zurück: Das ein solches auf Anhieb verrückt dünkendes Projekt überhaupt zu entstehen vermochte, ist alles andere als selbstverständlich. Die Idee, Schwitters Blume am Ausgang des Jahrtausends weltweit in zahlreichen linguistischen Farbtönen erneut aufblühen zu lassen, gestaltete sich als eine glänzende Metapher des interkulturellen Dialogs, der dem Sinn einer Weltausstellung nahekommt. Der divergierenden Strömung des Nachdichtungsprojekts gesellte sich als thematisch integrierter Pendant die konvergierende Gegenschöpfung der Korrespondenzgedichte hinzu. Anna, das ungezählte Frauenzimmer poetischer Fracht, wurde durch stürmische Phantasien der Nachempfindung tausendmal beschworen, gedreht, gewendet, ihrer Alltagsbuchstaben entkleidet, als ontologisches Fragezeichen durch die Sprachgewalt zumutbarer Polyphonie getragen und dann schließlich wieder auf die Beine gestellt: Ein Bild von der Geworfenheit globaler Impulse war da.

Manche Wege führen nach Hannover: Manche Wörter führen nach Hannover. Und wie einer so plötzlich merkt, daß die Städte der Welt, daß die Länder der Welt unter Umständen jeweils nur eine Strophe von einander entfernt sind, wird irgendwie die Ahnung eines Gedanken wach, der dieses Jahr an vielen Orten unseres tropfen Globus schlummert und gleichsam nur darauf wartet, mit auflebender Einbildungskraft aktiviert zu werden. Dann wird die Frage in den Raum gestellt: Bin vielleicht auch ich ein Hannoveraner? Und die Antwort liegt dem Herzen nah.

Vasile V. Poenaru, Hannover/Toronto

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