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October, 2004 - Nr. 10

 

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Rede von Bundespräsident Horst Köhler zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt
am 3. Oktober 2004

I.

Heute hat Deutschland Geburtstag. Ich wünsche uns allen einen fröhlichen 3. Oktober!

Wir sind gemeinsam 14 Jahre alt geworden. Unsere Nation lebt in Freiheit, in Einheit und in Frieden. Das feiern wir. Dafür sind wir dankbar. Und wir bekräftigen unsere Verantwortung für unser Land.

Vor gerade einmal 15 Jahren trennten uns noch Mauern, Stacheldraht und Minen. Nirgends auf der Welt waren so viele Soldaten, Panzer und Raketen konzentriert wie auf deutschem Boden. Wer am 3. Oktober 1989 die West-Nachrichten einschaltete, der hörte: Die DDR schließt die Grenze zur Tschechoslowakei, um die Massenflucht über Prag in den Westen zu stoppen. In Sachsen treibt die Volkspolizei an Bahnhöfen Menschen auseinander. Sie wollen auf die Sonderzüge aufspringen, die die Botschaftsflüchtlinge nach Westdeutschland bringen sollen.

Wer damals an den Montagsdemonstrationen teilnahm, musste um seine Freiheit und um sein Leben fürchten. Doch die Menschen gingen trotzdem auf die Straße. Sie haben in wenigen, dramatischen Monaten die SED-Diktatur besiegt und sich die Freiheit erkämpft: demokratisch, mutig, friedlich und besonnen.

Die Menschen in der DDR haben damit eines der schönsten Kapitel der deutschen Geschichte geschrieben, und sie haben es uns allen in Deutschland geschenkt. Daraus ist am 3. Oktober 1990 die neue, gemeinsame Bundesrepublik Deutschland hervorgegangen. Viele Freunde und Partner haben uns dabei geholfen, und die ganze Welt hat sich mit uns gefreut.

Brauchen wir, um unser Glück zu begreifen, wirklich immer erst Hochwasser, Bibliotheksbrände oder den Wiederaufbau zerstörter Kirchen? Haben wir überhaupt schon verstanden, welche Heilung sich seit 1990 in Deutschland vollzieht? Unsere Sprache, unsere Geschichte und unsere Kultur haben uns auch in den Jahrzehnten der Trennung verbunden, das ist wahr. Doch erst mit dem Ende der Trennung wird ganz offenbar, wie stark diese Bindung ist, und wir erkennen: Diese Einheit trägt uns.

Seither können wir alle den kulturellen Reichtum Deutschlands wieder nach Herzenslust erfahren, vom Dom zu Magdeburg bis zum Dom zu Speyer. Nun kann wieder jeder erleben, warum Gerhart Hauptmann so gern auf Hiddensee Urlaub machte und Adalbert Stifter den Bayerischen Wald so liebte. Wer will, der kann auf den Spuren Goethes von Frankfurt am Main nach Weimar reisen, auf den Spuren Schillers von Ludwigsburg nach Jena oder auch mit Richard Wagner von Dresden nach Bayreuth. So fügt sich das Bild von Deutschland in den Köpfen und in den Herzen wieder zusammen. Das tut unserem Land gut.

II.

Es gibt aber nicht nur Erfreuliches. Heute stecken wir offensichtlich auch in Schwierigkeiten. Ich glaube, dass wir mittlerweile die Gründe dafür besser erkennen können als noch vor 15 Jahren: Die alte Bundesrepublik hatte schon 1989 viele Veränderungen verschlafen, die eigentlich nötig waren. Dann haben wir alle vom Aufbau in Ostdeutschland zu schnell zu viel erwartet. Und die Welt um uns herum verändert sich rasant und nimmt dabei wenig Rücksicht auf uns.

Gewiss, Westdeutschland hat 1990 viel Gutes in die Einheit eingebracht: die feste Verwurzelung in der westlichen Werte­gemeinschaft, das Grundgesetz, solide demokratische Institutionen und Wirtschaftskraft. Aus Ostdeutschland kam ein überwältigender Wille zum Aufbruch und zur Veränderung.

Aber West und Ost bekamen es schnell mit demselben Übel zu tun: Das westdeutsche Regelwerk war zu stark geprägt von Selbstzufriedenheit, überzogenem Anspruchs­denken und einem alles durchdringenden Regulierungseifer. Es war viel zu üppig und viel zu umständlich geworden. Es schnürte die Kraft zur Eigeninitiative ab und hätte längst gestutzt und neu eingestellt werden müssen. Statt dessen wurde es auch in den sogenannten neuen Ländern eingeführt bis fast zum letzten i-Punkt.

Wohlgemerkt: Darüber waren sich die Ostdeutschen und die Westdeutschen einig. Fast jeder dachte, der Bankrott der DDR bestätige alles im Westen als richtig. Und nicht zu vergessen: Die Zeit drängte. Niemand wusste, wie lange die Tür zur Einheit offen sein würde.

Es war und bleibt richtig, dass Helmut Kohl und Lothar de Maizière damals entschlossen gehandelt haben, um die Einheit rasch zu erreichen. Aber uns allen, auch dem Staatssekretär im Bundes­ministerium der Finanzen Horst Köhler, fehlte damals die Zeit oder die Weitsicht, um im Zuge der Vereinigung wenigstens einige der im Westen überfälligen Reformen anzugehen. Wir hätten uns fragen sollen: Ob wohl unter einer solchen Last an Vorschriften und Bürokratie das westdeutsche Wirtschaftswunder je gelungen wäre? An dieser Last trägt ganz Deutschland bis heute. Das ist eine Hauptursache für viele unserer Schwierigkeiten. Wann handeln wir nach dieser Erkenntnis?

III.

Und wann verabschieden wir uns von dem Trugschluss, wir könnten Probleme durch immer höhere Staatsschulden immer weiter in die Zukunft schieben? Allein der Bund wendet mittlerweile für Schuldzinsen ein Mehrfaches von dem auf, was er für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Familie zusammengenommen ausgibt. Das belastet schon heute die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder gewaltig. Außerdem kommen in Deutschland seit Jahrzehnten immer weniger Kinder auf die Welt. Zugleich herrscht hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit. Kurzum: Seit langer Zeit läuft einiges schief, und gerade die Mischung ist gefährlich, denn Verschuldung, Wirtschafts­schwäche und das Altern der Gesellschaft verschärfen sich gegenseitig.

IV.

Und auch das ist noch nicht das ganze Bild, denn wir sind eben nicht allein auf der Welt. Das Ende des Kalten Krieges hat vielen Ländern auch die Freiheit gebracht, sich im internationalen Wettbewerb anzustrengen und den eigenen Wohlstand durch Fleiß und Geschick zu mehren. Die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel erleichtern das enorm. Können wir es anderen Völkern verdenken, wenn sie voller Begeisterung und Entschlossenheit ihre Chancen ergreifen? Ganz im Gegenteil: Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen und selber Chancen daraus machen.

Die anderen Länder wollen unseren Rat und unsere Waren. Sie setzen auf Handel und Wandel, wie auch wir es immer getan haben, um unseren Wohlstand zu mehren. Wenn wir tüchtig sind, dann werden wir am weltweiten Wirtschaftswachstum einen guten Anteil haben, und das sichert Arbeitsplätze. Aber ohne Anstrengung geht es nicht, und auf diese Anstrengung stellen wir uns immer noch nicht gut genug ein.

Wir stehen also vor einem Berg von Aufgaben. Manchem scheint er unüberwindlich. Ich bin überzeugt: Wir können und werden diesen Berg überwinden.

V.

Die Deutschen haben schließlich schon ganz andere Heraus­forderungen gemeistert. Ich war neulich hier in Erfurt im Rathaus. Es ist geschmückt mit Wandgemälden zur Stadtgeschichte - vom heiligen Bonifatius bis zu Martin Luther, von Heinrich dem Löwen bis zur Erhebung gegen Napoleon. Heute malt man sicherlich anders. Aber Bilder wie die im Erfurter Rathaus geben eine Ahnung von den Stürmen unserer Geschichte und von der Kraft, die in uns steckt. Die Deutschen haben ihr Land nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder aufgerichtet und zu einem Hort der Bildung und der Kultur gemacht, sie haben es in den Freiheitskriegen von Grund auf reformiert und im 19. Jahrhundert die besten Universitäten der Welt aufgebaut, sie waren führend in allen Bereichen von Wissenschaft und Technik. Durch eigene größte Schuld und durch das Versagen vor allem der deutschen Eliten ist das alles dann zweimal verspielt worden, und Deutsche haben furchtbare Verbrechen begangen. Den höheren Preis dafür haben nach Kriegsende die Deutschen im Osten gezahlt. Aber auch der Wiederaufbau nach der Nazi-Zeit, die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen und das wiedererworbene Vertrauen der Welt in Deutschland und die Deutschen zählen zu den großen Leistungen unserer Vergangenheit.

VI.

Auch unsere Leistungen in der Gegenwart können sich sehen lassen. Leider gibt es bei uns die Neigung, die Dinge vorwiegend in düsteren Farben zu malen und Erfolge kleinzureden. Aber nehmen Sie den Aufbau Ost: Was da in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten geleistet worden ist, das ist großartig. Die Innenstädte sind vor dem Verfall gerettet und erstrahlen in neuem Glanz. Überall sind neue Straßen und Eisenbahnlinien gebaut worden. Die Telefon- und Datennetze zählen zu den modernsten der Welt. Die Zerstörung der Umwelt ist gestoppt und gutteils auch geheilt. Es haben sich Wissenschafts- und Technologiezentren entwickelt, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen - von den Schiffbauern in Wismar bis zu den Autobauern in Eisenach, Leipzig und Dresden, von den Fusionsforschern in Greifswald bis zum "Optik-Valley" in der Region Jena und Erfurt, von den Pflanzengenetikern in Gatersleben bis zu den Molekularbiologen in Berlin-Buch, und ich könnte noch mehr solche Hochleistungszentren nennen. Das alles hat Zukunft und schafft Zukunft.

Und das vielleicht Wichtigste ist: Bei meinen Besuchen in den neuen Ländern habe ich jedes Mal Menschen kennen gelernt, die voller Ideen und Selbstbewusstsein sind; in dieser Woche zum Beispiel in einer Softwarefirma in Rostock und bei einem Getränkeproduzenten in Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Der eine erobert mit maßgeschneiderten Computer­programmen inzwischen sogar Auslandsmärkte, der andere hat es mit seiner Gruppe mittlerweile zum viertgrößten Getränkehersteller in Deutschland gebracht. Mehr als einmal habe ich bei solchen Begegnungen gedacht: Wer muss hier eigentlich wem Mut machen?

Aber die harte Realität ist auch: Es fehlen Unternehmen und Hunderttausende produktiver Arbeitsplätze hier. Arbeit stiftet Sinn. Wo sie fehlt, da machen sich leicht Mutlosigkeit und Verzweiflung breit. Wenn daraus Hoffnung und Zuversicht werden sollen, dann müssen alle Verantwortlichen wissen: Das Wichtigste ist jetzt Arbeit! Wir dürfen uns nirgendwo mit Arbeitslosigkeit abfinden, egal, ob in Nord, Süd, West oder Ost! Darum muss die Aufbauarbeit natürlich weitergehen. So ist es ja im Solidarpakt II für die nächsten 15 Jahre auch vereinbart, und niemand darf das in Frage stellen.

Es ist aber gut, wenn wir jetzt auch prüfen, wie wirksamer gefördert werden kann. Fördergelder sind schließlich vor allem für Investitionen da und nicht für den Konsum oder die Verwaltung.

Die kommenden Jahre müssen genutzt werden, um die Eigenkräfte der neuen Länder noch mehr zu stärken. Es geht dabei um mehr als nur um Geld. Unser Land ist geographisch und kulturell so vielgestaltig, es bietet so viele unterschiedliche Möglichkeiten, selbst­bestimmt zu leben, und es gewinnt daraus so viel Kraft - warum tun wir uns so schwer damit, dieser Kraft politisch mehr Raum zu geben? Immer mehr Menschen wollen Ideen selber verwirklichen und brauchen dafür mehr Mitspracherechte und größere Ent­scheidungs­spielräume. Natürlich bedeutet das mehr Verantwortung. Umso besser!, sage ich nur. Dann wird für die Bürger viel deutlicher, wer regionale Eigenheiten und Stärken wirklich nutzt.

In den Unterschieden liegen Chancen. Darum finde ich es gut, wenn über Unterschiede offen geredet wird. Es kann uns helfen. Doch wer an der Debatte darüber teilnimmt, soll das Gemeinwohl im Auge haben und nicht nur die eigenen Interessen oder kurzfristige Effekte in den Medien bei den Abendnachrichten.

VII.

Nicht allein Ostdeutschland, sondern ganz Deutschland muss erneuert werden, um uns eine gute Zukunft zu sichern.

Für diese umfassende Erneuerung haben wir alle Voraus­setzungen. Unser Land hat ja nicht ohne Grund überall auf der Welt einen guten Namen. Er steht für Erfindergeist, Fleiß und organisatorisches Geschick, für die Kulturnation und ihre Meisterwerke der Kunst und Wissenschaft, für sozialen Frieden und Rechtssicherheit, für große Erfahrung auf den Weltmärkten und für Spitzenprodukte. Es gibt also Grund zur Zuversicht.

Und Deutschland kommt ja auch in Bewegung. Die ersten Schritte sind getan. Wir dürfen nur nicht schon wieder stehen bleiben und können uns auch keinen Zickzackkurs leisten, und erst recht dürfen wir nicht zurückweichen vor der Dimension der noch notwendigen Veränderungen. Und weil es um die Menschen geht, müssen alle Entscheidungen besser erklärt werden, gut begründet sein und zueinander passen. Wir brauchen Reformen, die beides sind: stetig und stimmig.

VIII.

An welchen Werten und Grundsätzen sollen wir den Umbau unseres Landes ausrichten? Wer darüber nachdenkt, dem stellen sich schnell ganz grundlegende Fragen. Was hält uns zusammen? Was wollen wir miteinander erreichen? Niemand will Gleichmacherei und niemand will schrankenlosen Egoismus - wie vermeiden wir beides? Wie schaffen wir sozialen Ausgleich, ohne einander zu entmündigen oder zu überlasten? Wie behalten wir einen offenen Blick für kommende Chancen, statt uns ängstlich den Horizont zuzumauern? Alle diese Fragen wollen immer neu durchdacht sein. Kommt das bei uns nicht schon seit langem viel zu kurz?

Woran also sollen wir unser Handeln ausrichten? All unser Tun muss, wie es das Grundgesetz verlangt, die Würde des Menschen schützen und seine Kraft zur Eigenverantwortung stärken. Diese Kraft ist groß, und sie hat auch unser Land groß gemacht. Sie verdient viel mehr Vertrauen, Ermutigung und Hilfe.

Wäre es also nicht gut, wenn sich alle in Deutschland ein Versprechen geben, ein Versprechen, dem alle vertrauen können und das lautet: "Wir trauen Dir etwas zu. Wir wollen Dir von Kindesbeinen an immer so gute Chancen wie nur möglich eröffnen, aber Du musst auch mitmachen. Wir helfen Dir, wenn Deine Kraft nicht reicht oder wenn Dich ein Unglück trifft, aber wir helfen nur den wirklich Bedürftigen, nicht den Bequemen. Erprobe Deine Kräfte und mach das Beste aus Deinen Talenten, aber tu es so, dass es unseren Zusammenhalt stärkt."

Ich glaube: Dieses Leitbild entspricht den Überzeugungen der ganz großen Mehrheit der Menschen in Deutschland. Wenn wir ihm folgen, dann kommt Deutschland voran.

IX.

Das Wichtigste ist, und ich wiederhole das: Wir müssen die Menschen wieder in Arbeit bringen. Lassen Sie uns daran all unser Handeln messen: Was dient dem Ziel, die Menschen in Arbeit zu bringen? Dabei gilt es endlich zu begreifen: Der Bundestag, die Bundesregierung und die Landesregierungen können selbst keine dauerhaft produktiven Arbeitsplätze schaffen. Sie müssen aber für bestmögliche Rahmen­bedingungen sorgen. Arbeitsplätze schaffen allein erfolgreiche und innovative Unternehmen.

Ich will gar nicht lange von den Fehlern derer reden, die selber kein Risiko tragen und deren Missmanagement am Ende vor allem die Arbeitnehmer ausbaden müssen. Wir brauchen Unternehmer­persönlichkeiten, die bereit sind, die volle unternehmerische Verant­wortung und das volle unternehmerische Risiko auf sich zu nehmen. Die gibt es. Die gibt es vor allem im Mittelstand, bei Existenzgründern, Handwerkern und in den kleinen und mittleren Betrieben.

Ich habe in den vergangenen Wochen viele von ihnen kennen gelernt: echte Unternehmerpersönlichkeiten, die um die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter kämpfen, die ihre Arbeitnehmer motivieren und sich für die Gemeinschaft einsetzen. Das verdient viel mehr öffentliche Anerkennung. Hier können wir wirklich "Helden der Arbeit" finden, und wir sollten ihnen diese Anerkennung geben!

Aber gerade diesen Unternehmern schnürt das Übermaß an Vorschriften und Auflagen immer mehr die Luft ab. Sie sagen mir: "Dieser ganze bürokratische Wust ist unser Hauptproblem." Und das höre ich überall in Deutschland. Und deshalb stimme ich mit Helmut Schmidt überein: Wir brauchen in Deutschland endlich einen radikalen und nachhaltigen Abbau von Vorschriften und Bürokratie. Und wenn wir es nicht schaffen, gleich ganz Deutschland von dem Wust zu befreien, dann sollten wir das mindestens den neuen Ländern erlauben. Ich bin sicher, die anderen Länder kommen dann ganz rasch nach.

X.

Von Selbständigkeit, Eigeninitiative und Kreativität hängt unsere Zukunft also mehr denn je ab. Deshalb muss auch bei Erziehung, Bildung und Ausbildung so schnell wie möglich gehandelt werden.

Unsere Kinder und Enkel brauchen gute Schulen, Lehrstellen und Universitäten, um sie aufs Leben vorzubereiten. Darauf sind nicht nur sie angewiesen, sondern auch wir - oder wer soll unsere Renten einmal bezahlen?

Natürlich lässt Bildung unser Leben in einem viel umfassenderen Sinne gelingen als bloß ökonomisch. Sie gibt Orientierung, Freude und Selbstvertrauen in guten Zeiten und sie spendet Trost und Hoffnung in schlechten. Bildung ist ein Wert an sich. Aber unsere größte Wohlstandsquelle ist sie eben auch.

Ohne immer alles richtig zu finden, was andere über uns sagen, auch international: Ist es nicht traurig für ein Land mit unserer großen Bildungstradition, dass unsere Schulen und Universitäten im internationalen Vergleich nur noch als Mittelmaß eingestuft werden? Ist das nicht schlicht traurig?

Wir müssen alles verbessern: von Kindergarten und Schule bis Lehrwerkstatt und Universität. Dafür brauchen wir quer durch die Gesellschaft eine klare Vorstellung davon, wie wichtig Erziehung, Bildung und Ausbildung für unsere Zukunft sind; wir brauchen viel mehr Anerkennung für diejenigen, die Bildung vermitteln; und wir brauchen Lehrer und Ausbilder, die sich diese Anerkennung täglich neu verdienen.

Chancengleichheit durch bestmögliche Bildung herzustellen, ist der wichtigste Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit.

Und dabei dürfen wir nicht vergessen: Alles fängt in der Familie an. Eltern müssen sich um die Erziehung ihrer Kinder kümmern. Wenn sie das nicht tun, dann kann das keine Schule reparieren. Dafür müssen die Eltern sich Zeit nehmen und Zeit haben, auch wenn sie berufstätig sind. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, ihnen das zu erleichtern.

Wir werden für die Erneuerung der Bildung viel Geld brauchen, das ist wahr. Gerade dort darf der Staat eben nicht planlos sparen, denn nirgends ist das Geld besser angelegt. Es gibt dazu eine lehrreiche Geschichte aus dem alten Griechenland: Ein reicher Mann wollte seinen Sohn bei einem Philosophen in die Schule geben. Der Philosoph forderte dafür einen hohen Preis. Der Reiche protestierte: "Für so viel Geld kann ich mir ja einen Sklaven kaufen!" Der Philosoph erwiderte: "So kauf’ Dir einen, dann hast Du zwei."

Wenn wir nicht das nötige Geld in die Ausbildung unserer Kinder investieren, dann machen wir sie auch heute noch zu Sklaven ihrer Unwissenheit und der Verhältnisse. Sie werden noch viel mehr als wir auf Bildung, Forschung und Innovation angewiesen sein. Nur mit der besten Ausbildung sind sie frei, ihren Weg zu machen und für sich und unser Land eine gute Zukunft zu erarbeiten.

XI.

Dafür brauchen sie viel Raum zur Entfaltung. Darum müssen wir die Aufgaben des Staates und die Grenzen seiner Tätigkeit neu bestimmen.

Der Staat soll nicht alles Mögliche tun, sondern alles Nötige. Er hat ganz wichtige Aufgaben, und auf die soll er sich konzentrieren: Er muss uns gegen äußere Bedrohungen schützen und im Innern für Recht und Ordnung sorgen; er soll gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen bieten; und die wirklich Bedürftigen sollen sich auf seine Hilfe verlassen können.

Zur Zeit jedoch haben wir - wegen überzogener Ansprüche auf allen Seiten - mehr Staat, als wir uns leisten können. Und wir haben auch mehr Staat, als für die Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Menschen gut ist.

Mit ungezählten Programmen, Projekten und Vorschriften drängt der Staat sich ins Leben der Bürger, verbietet und gebietet, empfiehlt und missbilligt, zwackt hier etwas ab, spendet da etwas hinzu, und alles, alles wird verwaltet und gelenkt und kontrolliert und muss von allen mit Steuern und Abgaben bezahlt werden. Zur Zeit läuft fast jeder zweite Euro als Einnahme und Ausgabe durch die öffentlichen Kassen.

Wenn wir statt dessen mehr Freiheit für die Bürger schaffen und mehr Vertrauen in die Bürger haben, dann gewinnen wir die Kraft, Deutschland als Land der Ideen wieder ganz nach vorne zu bringen.

XII.

Um das zu erreichen, müssen wir auch dringend unsere bundesstaatliche Ordnung modernisieren. Die Staatsapparaturgehört entrostet, umgebaut und in Schwung gebracht. Darüber berät eine vom Deutschen Bundestag und vom Bundesrat eingesetzte Kommission. Sie soll bis Ende dieses Jahres Vorschläge machen. Dabei sollte es nicht um Machtgewinn gehen, sondern um Entscheidungsfähigkeit. Die Arbeit der Föderalismus­kommission ist für die Reformfähigkeit unseres Landes enorm wichtig.

Warum? Weil die Gesetzgebung kein Malefiz-Spiel mehr sein darf und die Bürger wissen wollen, wer eigentlich für was zuständig und politisch verantwortlich ist.

Die Politik muss wieder näher am Bürger sein. Die Länder und die Kommunen sollten mehr Möglichkeiten bekommen, neue Lösungen zu finden und auszuprobieren. Das alles stärkt auch unsere Demokratie.

Ich verfolge die Beratungen der Föderalismuskommission sehr genau. Ich erwarte, dass sie am Ende zu Reformen führen, die diesen Namen wirklich verdienen. Und ich fordere alle Bürgerinnen und Bürger auf: Interessieren Sie sich für die Arbeit der Kommission und für das Schicksal ihrer Vorschläge! Messen Sie am Ergebnis dieser Debatte die Qualität der deutschen Politik!

XIII.

Mehr Arbeit, ein Bildungswesen von Weltrang, das richtige Maß staatlichen Handelns und eine moderne föderale Ordnung: das sind vier große Schritte aus der Krise - gewiss nicht die einzigen, die nötig sind, aber besonders wichtige.

Diese Schritte kosten Zeit. Sie wirken nicht von heute auf morgen. Es gibt zu ihnen aber keine vernünftige Alternative. Und ich glaube und bin fest davon überzeugt: Sie werden sich am Ende für unser ganzes Land auszahlen.

Wir brauchen also langen Atem. Ich weiß, das ist für viele schwer, die eigentlich nicht mehr warten können, sondern Arbeit brauchen, Ausbildung, eine Perspektive für ihr Leben. Ihre Lage ist in Gera so bitter wie in Gelsenkirchen. Ich wünschte, ich könnte jedem von ihnen persönlich helfen; aber das kann kein Einzelner, das können nur wir alle gemeinsam.

Darum gilt umso mehr: Es schaue jede und jeder beständig darauf, dass die Verhältnisse bald wieder besser werden. Dazu können alle beitragen. Jeder kann ein bisschen mehr für das Gemeinwohl tun oder einmal auf etwas verzichten, was ihm "eigentlich" zustehen mag. Also: Augen auf! Die Summe aller guten Taten macht den Unterschied!

XIV.

Ein letztes will ich noch ansprechen: Wir können keinen verfassungsfeindlichen Extremismus gebrauchen. Unser Grundgesetz ist die beste Verfassung, die Deutschland je hatte. Sie schützt uns und unsere Freiheit. Wie wertvoll dieser Schutz ist, das zeigen der Blick in unsere Geschichte und der Blick hinaus in die Welt. Es gehört zu den größten Leistungen der Revolution von 1989, dass die Menschen in Ostdeutschland in Stadt und Land die Demokratie aufgebaut haben und sie kraftvoll gestalten. Übrigens: Ich glaube, es steht uns allen miteinander gut an, wenn wir den Verfolgten und Gegnern des SED-Regimes mehr Anerkennung und mehr Hilfe geben. Auch diese Gerechtigkeit gehört für mich zu den demokratischen Werten, für die die Menschen in der DDR auf die Straße gegangen sind.

In letzter Zeit haben leider viele Bürgerinnen und Bürger in Meinungsumfragen und bei Wahlen zum Ausdruck gebracht, dass sie von unserer Demokratie nicht die beste Meinung haben. Das macht mir Sorge, nicht zuletzt deshalb, weil darunter so viele junge Menschen sind. Es hilft nur eines: Alle Demokraten müssen um die Verdrossenen werben und den Böswilligen entschlossen entgegentreten. Mit abfälligen Bemerkungen ist es nicht getan. Wir müssen die Enttäuschten ernst nehmen und mit überzeugenden Gründen zurück­gewinnen, und wir müssen wachsam sein - und das werden wir!

XV.

Am Anfang habe ich Ihnen allen einen fröhlichen 3. Oktober gewünscht. Vielleicht glauben nun einige: "Da hat der Bundespräsident jetzt aber den Leuten gehörig die Laune verdorben, und das auch noch zum Erntedankfest!"

Wissen Sie was? Ich bin überzeugt davon, dass das nicht so ist. "Die Leute" sind nämlich wie Sie und ich: Sie wollen die Wahrheit wissen. Und wahr ist eben: Wir haben Grund zur Zuversicht. Wenn wir zusammenhalten und uns gemeinsam anstrengen, dann werden wir es schaffen. Warum sollten wir nicht fröhlich sein? Deutschland ist ein schönes Stück Erde.

Gott segne unser Vaterland.

 

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