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October 2000 - Nr. 10

 

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Eine Ostdeutsche Betrachtung

Antje Steiger

Am 3. Oktober jährt sich zum zehnten Mal der Tag der Deutschen Einheit. Ein Grund für eine große Feier, für die die sächsische Landeshauptstadt Dresden Gastgeber sein wird. Aus diesem Anlaß wird hier schon seit Wochen gebaut was das Zeug hält. Diverse Straßenbahntrassen und Straßen werden ausgebessert und erneuert, Straßenführungen geändert, kurzum die ganze Stadt steht Kopf.

Irgendwie erinnert dies an Jahresfeiern in der DDR, denn auch da wurde wie wild in der Stadt gebaut, die Gastgeber des offiziellen Staatsaktes war. Das Positive daran war, daß die Stadt dadurch zu ein paar baulichen Neuerungen kam. Allerdings wurden mitunter nur Häuserfassaden erneuert, damit der äußere Schein gewahrt wurde. So gesehen hat sich nicht viel geändert. Nicht einmal der Zweck ist ein anderer, oder doch?

Heute leben wir in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Mit der Änderung des Systems kamen die Veränderungen im Leben jedes einzelnen DDR-Bürgers - die Spielregeln des Lebens wurden neu aufgestellt.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde in dem Gymnasium, in dem ich mein Abitur ablegte, eine Lehrerin von einem Schüler niedergestochen. Das pure Entsetzten brach aus, unter den Lehrern, den Schülern, den Eltern und den Politikern. Was war schief gelaufen?

Diese Frage kann sicher niemand richtig beantworten. Man kann nur Vermutungen aufstellen und sich seine eigenen Gedanken machen. Aber eins ist sicher, diese Tat ist ein Produkt unserer heutigen Gesellschaft und damit auch eine "Nachwirkung" der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten.

Natürlich läßt sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob so eine Tat in der DDR nicht auch passiert wäre, aber es gilt hier nicht, Vermutungen anzustellen. Ich bin gern zur Schule gegangen. Wir waren eine einheitliche Klasse, hatten einen Klassenverband, der zusammenhielt und gemeinsam viel erlebte. Wir unterstützten schwächere Schüler, bildeten Lerngruppen, machte zusammen Hausaufgaben, lernten Hilfsbereitschaft und Solidarität. Dies waren keine leeren Phrasen, nein, wir wurden dahingehend erzogen und lebten danach. Zu unseren Lehrern hatten wir ein gutes Verhältnis. Sie waren nicht nur Lehrpersonen, sondern auch Erziehungspersonen. Sie kümmerten sich um uns und hielten den Kontakt zu den Eltern. Sie waren Respektspersonen. Das ist mit heute nicht mehr zu vergleichen. Jeder Eingriff der Lehrer in die Erziehung eines Kindes wird als Verletzung der Entwicklungsfreiheit des Kindes und Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht angesehen. Die Kinder können ihnen auf der Nase herumtanzen und keinen stört’s. Ist es da ein Wunder, daß viele Lehrer ihren Beruf nicht mehr gern ausüben? Was sind das nur für Zeiten, in denen die Entwicklung zu einzelnen selbstbestimmenden Wesen mehr zählt, als das Lernen in einer Gemeinschaft zusammen zu leben, nicht gegeneinander sondern miteinander. Immerhin verbringt manch Lehrer mehr Zeit mit einem Kind, als dessen Eltern, die, wenn sie zu den Glücklichen zählen, die einen Job haben, oft sehr beschäftigt sind. Schon zwei Jahre nach der Wende konnte man diese Veränderungen bemerken. Unter den Schülern wuchs zusehends der Konkurrenzdruck. Schließlich sind wir nicht nur in der Schule sondern auch später im Berufsleben Konkurrenten. Also lernten wir, daß sich jeder selbst der Nächste ist, um in dieses System zu passen und in ihm zu überleben. Das ist es, was die Menschen am stärksten veränderte - das Konkurrenzdenken. Keiner gönnt dem anderen etwas, jeder arbeitet nur für sich und der Hilfsbereite wird ausgenutzt. Es hat lange gedauert, ehe dies in den Köpfen der ehemaligen DDR-Bürger klar wurde. Die, die es schnell begriffen und in die Tat umsetzten konnten, erlebten ungeahnte Freiheiten und Möglichkeiten. Doch die anderen, die Schwierigkeiten mit dem Anpassen an das neue System haben, haben es nicht nur schwer, sondern bleiben teilweise auf der Strecke und geraten so ins soziale Abseits.

Waren wir doch gutgläubig, freundlich und offen. Naiv ist das andere Wort, das uns treffend beschreibt. Wir wurden überrumpelt von Hausierern und vermuteten nichts Schlechtes. Es kamen Versicherungsmakler und und und. Und wir dachten, sie würden uns helfen und beraten. Heute weiß ein jeder, daß viele von diesen „Haustürgeschäftemachern" in den DDR-Bürgern willige Opfer fanden, die als Kunden so den Lebensunterhalt dieser Geschäftsleute sicherten und damit deren Überleben. So entstand ein Mißtrauen in den Menschen, das bis heute andauert und wohl schwer wieder herauszubekommen ist.

von Antje Steiger, 26. September 2000

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