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October 2000 - Nr. 10

 

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Blickpunkt Toronto

von Vasile Poenaru

Vasile Poenaru

Schnittpunkt Gesichter. Im Singular.

Ich saß in Toronto: Ich saß in Toronto und zählte Gesichter. Es waren ihrer nicht wenige, denn ich saß an einem Ort, der die überwältigende Pluralität mobiler Semantik all der hektischen Blicketräger unseres gemeinen Alltags wie von selbst geradezu als eine Art soziogeographisches Fugenelement in das unmittelbar ansprechende Singular kollektiven Gemüts umdeutet. Diese Stadt bietet bemerkenswerte Konglomerate von Einsamkeit und Vielfalt, sie bietet Labyrinthe und Trichter - dort, wo die Völker aufeinander treffen, wenn sie hin und her treiben: Wenn sie einwandern, wenn sie auswandern.

Ich saß an einem Ort des Durchgangs: des Übergangs: der ausdrucksvoll konzentrierten Sagkraft aneinandergereihter Physiognomien. Und von dort aus beobachtete ich unter anderem das ewige Regiment der Blicke. Ausweichende Blicke, offene Blicke, scharfe, gierige oder aber auch ruhige Blicke nahm ich wahr. Jeder einzelne hatte etwas mitzuteilen, unter einem jedem Hut stachen jeweils zwei Augen hervor: wandelnde Diagramme der Erkenntnis. Manche schienen etwas zu zählen. Das kleine Infinit spontaner Verständigung schimmerte dann durch.

Gesichter schneiden: Der Begriff kommt ganz bestimmt nicht von ungefähr. Im Schnittpunkt Toronto bieten sich Zerrformen der zeitgenössischen Gesellschaft an, so heißt es. Die Gesichter, die ich zählte, brachten den Hauch vieler Damen und Herren Länder mit sich. Die einen sahen wohlgerundet und frisch aus, andere hingegen eher hager, in gewisser Hinsicht gar unvollständig. Rasse und Masse gewannen gleichermaßen schnell nüchterne Konkretheit, verkörperten sich in mal harmonischen, mal grotesken Tönen. Eine stumme Flut gelebter Sprache schmiegte sich aus vielen Richtungen an die paar Sinne, denen Kommunikationspotential innewohnt: Das ungesagte Spiegelbild der Welt warf konvergierende Schatten in meine seinslüsterne Pupille.

Ich wollte sehr viele Gesichter zählen und mir daraus ein eigenes Portrait zusammenstellen von dem, was wir oft im abgestimmten Augenspiel passierender Wahrscheinlichkeit zu erhaschen meinen. Ich wollte vom Antlitz einer beiweilen unheimlichen Erscheinungsform lernen, die man trotz aller gewaltigen Mutationen der Hyperstunde immer noch Menschenskind zu nennen pflegt. Ich wollte lernen, wie das Plural ins Singular überzugehen vermag. Holistik sagen manche dazu, andere sprechen von Dichotomie und Werdung. Was ich mir aneignen wollte, war nicht ein Wort oder ein Wert, sondern die sehr persönlich bedingte Empfindung des Überpersönlichen jenseits von Begriff und Bildhaftigkeit, wenn der allmächtige Augenblick menschlicher Wechselwirkung nicht mehr verweilen will. Die ungestüme Dynamik verwegener Brennpunkte des Bewußtseins riß die Zumutung kollektiver Andersheit ins Ungefähre. Toronto kann manchmal ein Buch mit vielen Seiten sein, aus dem man mehr über sich erfährt, als einer meinen würde. Selber mit dabei gewesen sein, wenn die anderen nicht mehr die Anderen hießen, das war keine geringe Erwartung: Ich hegte sie.

Daß es dieses Jahr in Toronto einen richtigen Weihnachtsmarkt geben wird, kam mir dabei unwillkürlich in den Sinn. Und daß mein kanadisches Gesichterzählen der Gemeinde einst gleichsam dort anfing, wo deutsches Kulturerbe in einen dankbar vielseitig ausgerichteten Entfaltungsraum übergeht: beim Donauschwaben Club: Dies konnte ich auch nicht vergessen. Bilder bleiben hängen, ob nun sprachlich oder dinglich. Als Echo Germanica sein zehnjähriges Jubiläum feierte, wurde manches Foto für die Verlosung geschossen; einige wurden dann gedruckt. Es ging um nichts weniger als eine Zeitung und ihre Gesichter: ihre Leser. Darin spiegelt sich einiges wieder, was wir als gemeinsamen Nenner des innerlichen Dranges betrachten, der mehr überbrücken will als bloß Sprachen und Generationen. Dem Augenblick näher kommen: zeitlich und menschlich: Die Wette gilt.

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