2. Brief aus Kanada |
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von Rolf Studer
Die ersten WochenAls Auswanderer wird man von zurückgebliebenen Landsleuten (geographisch gemeint) häufig gefragt: "Und jetzt, wo gefällt’s Dir besser - in Kanada oder in Europa ?" Man muß sich mäßigen, damit die Antwort nicht allzu enthusiastisch ausfällt. Dafür gibt es gute Gründe:
Seit unserer Einwanderung sind nun einige Wochen vergangen, und die hektische Anfangsphase macht langsam dem kanadischen Alltag Platz. Für die Kinder waren die Sommerferien anfangs September zuende. In der Primarschule von Big Lake werden sieben Klassen unterrichtet. Der durchschnittliche Schülerbestand einer Klasse liegt bei etwa sieben Kindern, was als karger Ertrag des dünnbesiedelten Landes von Britisch Kolumbien (ca. 3 Einwohner pro km2) gewertet werden muß. So unterrichtet denn ein Lehrer gleich drei Jahrgänge im selben Zimmer. Alle Lehrkräfte sind äußerst hilfsbereit und hocherfreut, daß es zusätzliche Kinder in ihrer Schule gibt. So machen die Neulinge denn auch unerwartet rasche Fortschritte im Alphabet, und die anfängliche Angst vor dem Unbekannten wird durch kleinste Erfolgserlebnisse vertrieben. Ein weiterer ausschlaggebender Pluspunkt ist der gelbe Schulbus, mit dem die Kinder zur nahegelegenen Schule fahren dürfen! Wenn sich jemand in unserer Familie über den Umzug nach Kanada entsetzt, dann sind es meine beiden linken Hände ! Seit 10 Wochen werden sie von allen denkbaren Sparten des Handwerks malträtiert - von allem, was halt Bürofinger normalerweise tunlichst scheuen. Beim Dachdecken rutschte mir ein scharfkantiges Blechelement weg. Trotz der Schutzhandschuhe geschah das Unvermeidliche: Ein tiefer Schnitt im Unterarm machte mich mit meiner Pulsader bekannt, die mir freundlich zulächelte, aber gottlob nicht auch noch winkte. In die andere Hand schnitt ich mich etwa eine Stunde später, nachdem ich die Arbeit wieder aufgenommen hatte. Eine wahre Abwechslung für die permamuskelkatergeplagten Hände war die Erfahrung mit einer Kettensäge. Nach der ersten Rottanne vibrierten meine vorderen Gliedmassen wie pralle Wassermelonen, welche an einem Preßlufthammer befestigt sind. Wieder mit Leben erfüllt wurden sie erst zwei Tage später, als ich die kleinen Holzsplitterchen aus den schwärenden Fingerkuppen sezierte. Ob’s uns gefällt in Kanada ? Ja, sehr! Es ist zwar härter (körperlich), ansonsten jedoch einfacher, ruhig und noch naturgeprägt, sowohl im normalen Alltag als auch im Umgang zwischen den Menschen. Wer eins mit sich selbst sein kann, findet in diesem Land den nötigen Freiraum, um sein Leben zu gestalten und zu genießen. Der Herbst erscheint mit dumpfen Schritten und grellen Farben. In den nächsten Tagen wird mich mein erster Job in die wild romantische Landschaft des Chilcotin führen. Als "Stacheldrahtexperte" werde ich mithelfen, einen 8 km langen Holzpfahlzaun in der Wildnis zu errichten. Geschlafen wird im freien Busch und geduscht erst am Wochenende. |
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