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February, 2006 - Nr. 2

 

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Diesen Kuss der ganzen Welt

 

Betrachtungen über den Kuss

So heisst es in Schillers Ode < An die Freude> und so hat es Beethoven in seiner Neunten Sinfonie vertont.

Der Kuss- zwei sich begegnende Lippenpaare – die wohl symbolträchtigste Ausdrucksform die der Mensch mit anderen Menschen teilt. So vielsagend wie das Lächeln des Menschen, so variantenreich , unendlich- gleich der Musik.

Es gibt nicht den Kuss, jeder Kuss sagt etwas ganz bestimmtes und ist innerster menschlicher Ausdruck, intim und öffentlich zu gleich. Der Kuss: Es sind die wortlos sprechenden Lippen - ja der Mund sagt ohne Worte mehr, als alle Worte die er spricht -.

Sind nicht die Lippen unsere rote Seele? Und mag das Lippenrot der Frauen noch so raffiniert daher kommen, sichtbar bleibt die Seele, trotz verführerischem Kussmund, ja ein solcher kann uns eher schrecken als verführen, sehen wir doch trotz des grellen Rot die dunkle Seele die sich da erkennbar zeigt, ein Ausdruck den wir nicht verstehen, nicht mögen, der abgründig und nicht heiter wirkt.

Insofern wäre es schon gedankenswert, zu fragen warum gerade junge Punkerfrauen ihre Lippen schwarz bemalen, dass lebendige Rot verbannen hinter einem alles verdeckendem Schwarz. Und ebenso sollte gefragt werden, warum Frauen die besonders erotisch aussehen wollen und die dynamisch verführen wollen, ihr künstlich gestaltetes, markantes Lippenrot dadurch noch unterstreichen, in dem sie die Konturen ihrer Lippen schwarz umranden.

Die Lippen, der Mund verrät die Tiefen wie die Höhen eines Menschen.

Der Kuss – zwei Seelen verschmelzen zu einer , ein stetiger Wechsel von geben und nehmen , von Sanftheit und Leidenschaft, er ist- oder besser er kann - Ausdruck von innerster Befindlichkeit sein.

Und somit gibt es auch den anderen Kuss, den gefährlichen, den Unheil und Verderben bringenden Kuss. Der wohl berühmteste Verräterkuss ist der Judas –Kuss. Eine Bezeichnung die sich bis in unsere Zeit hin gehalten hat. Denn welche genial-diabolische Verquickung , ein Kuss der als Ausdruck der Verbundenheit dient, dient nun zum Verrat, ein Kuss der den Tod bringt. ( Ist das vielleicht ein Grund mit warum so viele Menschen von ihren Liebespartnern wünschen echt geküsst zu werden?) Ein Todeskuss also war dieser Judas-Kuss, der noch immer als einer der infamsten Arten des Verrats gilt.

Nun da ist der Todeskuss bei R. Wagners < Tristan und Isolde> von anderer Art. Dort ist der Todeskuss der finale Akt einer alle Grenzen sprengenden Liebe. Isolde küsst Tristan und saugt ihm so das Leben aus. Überhaupt wird der Todeskuss meist mit von der Frau gebend assoziiert. Dies drückt wohl die Angst ( des Mannes ) vor der unbezwingbaren Leidenschaft der Frau aus. Und dies finden wir in Kleists Theaterstück < Penthesilea >, wo die gleichnamige Amazonenkönigin ihren Geliebten Achill liebt und küsst , zwischen Zärtlichkeit und Gewalt schwankt, und spricht: „ Küsse, Bisse / das reimt sich , und wer recht von Herzen leibt / kann schon das eine für das andere greifen."

Der Kuss also der sich zum Biss, zum Liebesbiss wandelt!-

Dem Hollywood geschulten Menschen fällt dazu der Vampir ein, der seine Opfer küsst und mit diesem Kuss ihnen das Blut aussaugt- der Kuss also nicht nur als Verschmelzung zweier Seelen, oder doch? Will der Geküsste sein Leben geben für diesen einen – unwiederbringlich sich ins orgiastisch steigernden – Kuss? Ist Kuss Hingabe und Eroberung , Kampf für den Sieger und Glück des Besiegten? Ist er nicht von Gleich zu Gleich, nicht partnerschaftlich, nicht demokratisch, sondern nur triebhaft? So sagt es uns S. Freud der den Kuss herleitet „ als das Wiederbeleben des wohligen Gefühls, dass mit dem Saugen an der Mutterbrust einherging." Nun dies mag wohl auch ein Grund sein- vielleicht , doch wenn es so wäre warum gibt es dann so unendlich verschiedene Inhalte des Kusses? Und der Verhaltensforscher Eibel-Eibesfeld sieht den Ursprung des Kusses in der Brutpflegehandlung. Nun auch dies – vielleicht. Der Vorläufer des Kuss sei das gegenseitige „beschnüffeln „ , also ein Erbe unserer Tierhaftigkeit- kein sehr schöner Gedanke wenn man in den Armen einer Frau liegt, das ist so ähnlich, wie wenn Biologen sagen, dass der Mensch zu 90% aus Wasser bestehe, was nur hab ich von derartigen Informationen. Wie auch immer, der Kuss ist sehr alt wie das Küssen auch, denn die ersten Zeugnisse dieses zwischenmenschlichen Austausches finden wir bereits auf Zier –und Gebrauchsgegenständen aus dem 3. Vorchristlichen Jahrtausend.

Nun gleich wo und aus welcher Perspektive man den Kuss her betrachtet, er führt mit geradezu bewundernswerter Leichtigkeit hin in ein Universum- in das Universum des Kusses.

Verräterkuss, Todeskuss, der Kuss des Vampirs - dem gegenüber steht der Kuss der Liebe, des Aufwachens, jener Kuss der den Tod vertreibt, so wie er uns in den Märchen erzählt wird. Der bekannteste dieser Küsse ist wohl in dem Märchen < Dornröschen>, wo ein Kuss eines Prinzen Dornröschen aus dem hundert Jahre langen Schlaf weckt, ja wachküsst! Es zeigt auch, das der Kuss klassenlos ist, der Kuss als Brücke zu allen sozialen Klassen, zu allen Rassen, zu allen Religionen-! Der Kuss als Friedenskuss! ( zugegeben wenn er so brutal und heuchlerisch in der Öffentlichkeit gezeigt wurde wie bei den greisen Politikern der früheren sozialistischen Bruderstaaten- zugegeben da hatte diese Art des Friedenskuss vielmehr den Inhalt und den Geist des Judaskusses!)-

Ein Kuss also – wohl nicht nur im Märchen – kann einen Menschen wecken, kann einen Menschen von eigentümlicher Sinnenlethargie hin zur sinnlichen Ekstase mutieren lassen. Heisst es nicht auch: Er hat sie wachgeküsst.-Und mit diesem wach werden, sich also der Welt und dem Menschen zu zuwenden, heisst auch, sich der Hoffnung zu wenden: Ein Kuss beinhaltet auch Hoffnung. Eine Mutter die ihr Kind am morgen küsst wenn es zur Schule geht drückt mit diesem Kuss auch die Hoffnung aus, dass das Kind wohlbehalten zurückkommt.

Es gibt aber auch den Kuss der alles zu sagen scheint, ohne dass man wirklich weiss, was dieser Kuss denn bedeuten soll:

Den wohl vielsagensten Kuss in der Weltliteratur begegnen wir in Dostojewskis < Grossinquisitor > welches eine dialogisch- monologische Erzählung innerhalb seines Romans < Die Brüder Karamasow > ist.

Dort kommt Jesus auf die Welt zurück zur Zeit der Inquisition, und natürlich wird er sofort verhaftet. Der Grossinquisitor will ihn aber bevor er hingerichtet werden soll noch verhören! Der Grossinquisitor wirft Jesus alles schlechte vor und macht ihn für alles verantwortlich was er durch sein Tun und Sagen hervorgebracht hat. Als der Grossinqisitor geendet hat, sagt Jesus kein Wort, er hat auch sich mit keinem Wort verteidigt, er steht nun auf „ nähert sich schweigend dem Greise und küsst ihn still auf die blutleeren neunzigjährigen Lippen. Das ist seine ganze Antwort". Der Greis ist wie erstarrt öffnet die Gefängnistür und sagt „ Geh und komm nie wieder- komm überhaupt nicht mehr, nie wieder... nie wieder-„ Nun welcher Art ist dieser Kuss? Ist es der verzeihende oder der liebende oder der mutige oder gar der ironische auch vielleicht der nazistische Kuss? Oder ist es der besiegelnde Kuss?

Hier stellen wir es wieder fest, fast ein jeder Kuss führt uns in ein Universum von Liebe, Verrat, auch von Ratlosigkeit.

Künstler – so gewinnt man den Eindruck - sind was die Betrachtung, die Interpretation des Kusses angeht wohl weniger ratlos! Die Dichter schreiben die herrlichsten Gedichte über den Kuss- und das nicht nur in der Romantik, nein selbst in unserer ach so klar digital strukturierten Zeit , ist der Kuss ein Thema der modernen Dichter. Und in der Malerei, auch dort wird er dargestellt, naturalistisch oder idealistisch, angedeutet, oder geistig überhöht denken wir in diesem Zusammenhang nur an Gustav Klimt, an sein Gemälde < Der Kuss> von 1908. Und in der Plastik? Nun wer kennt sie nicht August Rodins < Der Kuss > von 1888-89 diese 183cm grosse Marmorplastik! Ja gerade dieser Künstler hat sich mit der zärtlichen Verschlungenheit zweier Menschen intensiv beschäftigt, und viele seiner Plastiken oder Aquarelle lassen einen gebenden Kuss oder einen empfangenden Kuss erahnen, wenn auch die Titel dies nicht immer eindeutig benennen, denken wir etwa an die kleine Plastik < Ovidsche Metamorphose > 1907- 1912 und and < Ewiger Frühling >1885, < Die frohe Nachricht > o.D, oder an die Aquarelle < Frauen > o.D. und < Die Umarmung > 1905.

In der Musik ist es wohl L.v. Beethoven der in genialster Form den Weltenkuss in seiner Neunten Sinfonie komponiert hat, und den Weltenkuss zum unabdingbaren unumstösslich hoffnungsvollen Friedenskuss in göttlich zu nennende Musik goss. < Seid umschlungen Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt > - In heutiger Sprache heisst das nichts anderes als das der Kuss global ist und schon war, und wenn auch nicht kulturell überall der physischer Kuss vollzogen wird/ wurde, so doch seine Idee; er im Ausdruck interreligiös und multiethnisch wirkt! Gibt es einen leichteren, sanfteren, universelleren zwischenmenschlicheren Ausdruck als den Kuss? Utopie wird man sarkastisch rufen!? Oh nein – der Kuss ist keine Utopie, er ist kein Nirgendwo, er ist hier und jetzt, er ist das Universum welches wir mit unseren Lippen geben und formen können!

Paul-Bernhard Berghorn

Zürich November 2005

 

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