Liebe Sybille,
lieber Herr Wandschneider,
heute ist Volkstrauertag, natürlich auch hier in Moskau. Ich
möchte dieses Datum zum Anlass nehmen mich kurz bei Ihnen zu
melden und Ihnen zu berichten:
Nach Ihrer Mail im Dezember 2008 hatten wir uns kurzfristig
entschieden, noch im gleichen Jahr zwischen Weihnachten und
Neujahr aus Moskau kommend nach Kitchener zu fliegen. Gott sei
Dank, möchte ich sagen!
Für meinen Vater war das natürlich nicht nur ein bewegendes,
überraschendes Erlebnis sondern bedeutete sicher auch ein klein
wenig ein Abenteuer, zum ersten Mal den Atlantik zu überqueren.
Über das Internet hatten wir eine Unterkunft bei Frau
Monika Ruttkowski gefunden - vielleicht kennen Sie das Gefühl,
manche Menschen hätte man ganz einfach früher im Leben treffen
sollen. Wir verbrachten in ihrem Haus wunderschöne Tage und
erlebten eine Wärme und eine Gastfreundschaft, die wir nie
vergessen werden.
Es gibt Momente, bei denen kann man sich auch nach Jahren noch
ganz genau erinnern, wie man sie erlebte. Ein solcher Moment
war, als wir mit dem Auto (!) auf den Woodland-Friedhof fuhren
und am äußersten Ende die Kriegsgräber problemlos so fanden, wie
von Ihnen vorab beschrieben. Wir hatten mit sehr viel Schnee
gerechnet und waren entsprechend ausgerüstet, um die Grabkreuze
freifegen zu können und so die Namen lesen zu können. Nun,
vermutlich war dies aber der wärmste Winter seit 100 Jahren und
alles erstrahlte in schönstem Grün.
So standen wir dann
nach über 60 Jahren vor dem Grab meines Großvaters, der sinnlos
wie 60 Millionen weitere Menschen viel zu früh die Welt
verlassen musste. Das beigelegte Photo hat für mich eine
besondere Bedeutung. Nicht, weil es vier Generationen
noch einmal zusammenbringt sondern weil es das letzte Photo ist,
das ich zusammen mit meinem Vater machen konnte.
Wenige Tage später
zurück in Deutschland hatte er einen schweren Unfall mit einer
Kopfverletzung; aus dem resultierenden Koma erwachte er nicht
mehr und verstarb einige Monate später. - Wir hatten für ihn
Photos unserer Kanadareise stark vergrößert und ich hatte den
Eindruck, dass mein Vater in seinen wenigen Wachphasen darauf
irgendwie reagierte.
Ist das nicht eine Ironie, eine Laune des Schicksals? - Mein
Großvater verstarb an einer Kopfverletzung in kanadischer
Gefangenschaft, mein Vater wenige Tage nach dem Besuch in Kanada
ebenfalls. So war das nicht nur die letzte Gelegenheit, das Grab
zu besuchen, sondern diese Reise bedeutete auch den letzten
nachhaltigen Eindruck, den mein Vater auf seinem Weg in ein
neues unbekanntes Land mitnahm.
Ich bedanke mich bei Ihnen beiden und bei Frau Ruttkowski ganz
herzlich für die freundliche Unterstützung, ohne die wir den
weiten Weg wohl nicht gewagt hätten und ich bin mir sicher, dass
wir zurückkehren werden nach Kitchener. Frau Ruttkowski
bringt sogar ab und an ein paar Blümchen vorbei. Ich bedanke
mich ausdrücklich auch bei den kanadischen Schulkindern, die die
Kriegsgräber zweijährig pflegen und die Namen der Grabsteine
nachziehen.
Erinnerungen wach zu halten, bedeutet Fehlern aktiv vorzubeugen.
"Heimat - A German Dream", so heißt der Titel eines Buches von
Elizabeth Boa. Ja, für uns Deutsche im Ausland ist das wichtig,
weil Heimat Wurzel, Bezugspunkt und Erinnerung bedeutet. Wer
kennt nicht die halbverdrückte Träne, wenn man am Heiligabend in
der pakistanischen Wüste die Kirchenglocken des Kölner Doms über
das Radio hört? - Aber was ist Heimat? Es ist sicher mehr als
eine Stadt, ein Dorf, ein Haus - Heimat ist ein Gefühl, ist
"erinnert werden", ist die Geborgenheit im Kreis bekannter
Menschen. Anders als der Großvater meiner Frau, der unbekannt
irgendwo zwischen Orscha und Minsk in weißrussischer Erde seit
1944 vermisst liegt, bin ich in diesem Sinne stolz sagen zu
dürfen, dass mein Großvater im Kreise von Kameraden und - wieder
gewordenen - kanadischen Freunden in fast heimatlicher
kanadischer Erde ruht. - Danke!
Liebe Sybille, lieber Herr Wandschneider, bitte grüßen Sie Ihre
Gäste während der heutigen Zeremonie von uns. Ich wünsche Ihnen
für Ihren heutigen Tag viele aktive Teilnehmer und aufmerksame
Zuhörer - ich werde in Gedanken bei Ihnen sein - und wünsche
Ihnen beiden und Ihren Familien ein gesegnetes Weihnachtsfest
und ein gesundes, zufriedenes neues Jahr 2011.
Mit lieben Grüßen aus Moskau, Ihr Hans Jürgen Wio
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